Gefahren kennen: KKW-Unfall
Welche Gefährdungen gibt es für die Schweizer Bevölkerung? Wie lassen sich diese systematisch beschreiben? Welche Auswirkungen hat eine bestimmte Gefährdung auf Mensch, Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft in der Schweiz?
Um Antworten auf diese und viele weitere Fragen zu finden, führt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS eine umfassende nationale Risikoanalyse „Katastrophen und Notlagen Schweiz“ durch. Im Rahmen dieser Arbeiten werden mögliche Gefährdungen identifiziert, Szenarien entwickelt und die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt detailliert betrachtet. Basierend auf der Eintrittswahrscheinlichkeit und dem möglichen Schadenausmass kann das jeweilige Risiko der Gefährdungen abgeschätzt werden. Daraus entstanden diverse Produkte wie beispielsweise der Risikobericht, der Gefährdungskatalog und die spezifischen Gefährdungsdossiers. Insgesamt sind 33 bevölkerungsschutzrelevante Gefährdungen systematisch analysiert worden.
In unregelmässigen Abständen greift der Alertswiss-Blog jeweils eine bestimmte Gefährdung auf. Anlässlich des 30. Jahrestages der Atomkatastrophe von Tschernobyl wird in diesem Blogbeitrag die Gefährdung des KKW-Unfalls unter die Lupe genommen.
Ereignisbeispiele
Unfälle in Kernkraftwerken (KKW) sind – glücklicherweise – seltene Ereignisse. Allerdings belastet ein schwerer KKW-Unfall das betroffene Gebiet sehr stark und über eine extrem lange Zeit. Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen können sogar auf internationaler Ebene einschneidend sein. Derartige KKW-Unfälle bleiben denn auch über lange Zeit im öffentlichen Bewusstsein sehr stark präsent. Die beiden Unfallorte Tschernobyl und Fukushima sind heute weltweit bekannt und stehen gleichsam als Symbol für die Gefährdung durch KKW.
Am 11. März 2011 beschädigte eine von einem Seebeben ausgelöste Flutwelle im japanischen KKW Fukushima Daiichi vier der sechs Reaktorblöcke, was in den Blöcken 1 bis 3 zur Kernschmelze führte. In der Folge wurden grosse Mengen an Radioaktivität unkontrolliert an die Umwelt abgegeben. Der KKW-Unfall verursachte zwar keine unmittelbaren Erkrankungen oder Todesfälle, zwischen 100‘000 und 150‘000 Einwohner mussten das Gebiet rund um das KKW aber vorübergehend oder dauerhaft verlassen. Weite Teile um das KKW sind noch heute stark belastet und nicht bewohnbar.
Im ukrainischen KKW Tschernobyl kam es am 26. April 1986 bei einem Test im Block 4 zur Kernschmelze und zu einer Explosion. In der Folge entwichen über mehrere Tage grosse Mengen radioaktiven Materials, wovon einige Stoffe aufgrund ihrer Leichtigkeit tausende Kilometer weit getragen wurden. Die Arbeiten zur eigentlichen Unfallbewältigung im KKW forderten ca. 30 direkte Todesopfer, etwa 200 Personen litten an akuter Strahlenerkrankung. Mehrere hunderttausend Personen aus der Umgebung wurden leicht verstrahlt, was für sie insbesondere ein erhöhtes Krebsrisiko bedeutet. Die Zahl der evakuierten bzw. umgesiedelten liegt ebenfalls im Bereich von mehreren hunderttausend Personen.
Auch in der Schweiz ist es in der Vergangenheit zu einem KKW-Unfall gekommen, wenn auch zu einem deutlich weniger folgenschweren. Am 21. Januar 1969 kam es im Versuchs-KKW von Lucens (VD) zu einer Überhitzung von mehreren Brennelementen. In der Folge wurde Radioaktivität in die Reaktorschutzhülle abgegeben. Diese konnte nur zum Teil versiegelt werden, wodurch radioaktive Gase an die Umwelt gelangen konnten. Messungen ergaben jedoch keine unzulässigen Strahlendosen im Umfeld des Reaktors.
Definition
In der anerkannten internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) ist ein KKW-Unfall definiert als Unfallereignis in einem KKW, bei dem die zusätzliche Strahlenbelastung der Bevölkerung der Höhe der natürlichen Strahlenbelastung entspricht oder diese übersteigt. In den schweizerischen Rechtsgrundlagen wird ausserdem der Begriff Störfall verwendet. Damit wird jedes Ereignis bezeichnet, welches das Eingreifen eines Sicherheitssystems erfordert.
Der Ablauf eines KKW-Unfalls lässt sich grundsätzlich in drei Phasen gliedern: Die Vorphase bezeichnet den Zeitraum vom Beginn eines Ereignisses bis zum Austritt von Radioaktivität. Die Wolkenphase umfasst den Zeitraum vom Austritt von Radioaktivität bis zum Abzug der radioaktiven Stoffe in der Luft. Die Bodenphase schliesslich bezeichnet den (möglicherweise sehr langen) Zeitraum, während dem vom kontaminierten Boden weiterhin stark erhöhte radioaktive Strahlung ausgeht.
Referenzszenario: Möglicher Ereignisablauf bei einem schweren KKW-Unfall
Im Referenzszenario KKW-Unfall Inland erfolgt (wie in Tschernobyl und in Fukushima) ein schwerer Kernschaden: Aufgrund eines Defekts des Kühlwasserkreislaufs kommt es im betroffenen KKW zur automatischen Schnellabschaltung des Reaktors. Da auch die Notkühlung der Brennelemente versagt, erhöht sich die Temperatur im Reaktorkern so stark, dass es zur teilweisen Kernschmelze kommt. Durch die Überhitzung wird Radioaktivität aus dem Reaktordruckgefäss in die Sicherheitshülle des Reaktors abgegeben, wo sie vorläufig zurückgehalten werden kann.
Für die Anordnung von Sofortmassnahmen bei einem KKW-Unfall ist in der Schweiz die Nationale Alarmzentrale NAZ zuständig. Sie ordnet an, dass die Bevölkerung im am stärksten gefährdeten Gebiet vorsorglich evakuiert wird. In Gebieten, wo dies nicht möglich ist, werden die Menschen angewiesen, sich in einem geschützten Bereich im Haus (Schutzraum, Keller oder innenliegender Raum) aufzuhalten.
Im KKW verschlechtert sich die Situation weiter. Die radioaktiven Stoffe können nicht länger in der Sicherheitshülle zurückgehalten werden, weshalb es während etwa 2 Stunden zur unkontrollierten Abgabe von Radioaktivität an die Umwelt kommt. Die Strahlungsgrenzwerte werden bis zu einer Distanz von 100 km überschritten, wobei die grösste Belastung im engeren Umkreis von rund 10 km auftritt. Nach etwa 2 Tagen ist die Wolkenphase vorbei. Im Durchzugsgebiet der radioaktiven Wolke wird der Boden langfristig kontaminiert.
Referenzszenario: Mögliche Auswirkungen
Die direkten Personenschäden bleiben auch bei einem schweren KKW-Unfall verhältnismässig gering: Infolge von Arbeitsunfällen bei den Notfallmassnahmen im betroffenen Kraftwerk sowie durch Verkehrsunfälle flüchtender Personen wird mit etwa 20 Todesopfern gerechnet. Strahlungsbedingte Personenschäden sind ebenfalls gering, da sich die Bevölkerung aufgrund der frühzeitigen Warnung grösstenteils rechtzeitig in Sicherheit bringen kann. Nur wenige Personen, die sich entgegen den Verhaltensanweisungen während der Wolkenphase im Freien aufgehalten haben, werden durch Strahlung geschädigt, was für sie insbesondere ein erhöhtes Krebsrisiko bedeutet.
Nach dem Durchzug der radioaktiven Wolke werden die zurückgebliebenen Personen aus dem am stärksten betroffenen Gebieten evakuiert. Viele weiter entfernt lebende Personen verlassen das kontaminierte Gebiet ebenfalls. Aus den am stärksten betroffenen Gebieten müssen die Bewohner permanent umgesiedelt werden. Wo immer möglich wird das verstrahlte Gebiet dekontaminiert, indem Oberflächen gewaschen und Böden abgetragen werden. Gebiete, die nicht dekontaminiert werden können, werden zu langfristigen Sperrzonen erklärt.
Die Evakuierung bzw. Umsiedlung der Bevölkerung aus den am stärksten betroffenen Gebieten sowie die weiteren Fluchtbewegungen aus benachbarten Gebieten sind für die betroffenen Personen eine sehr grosse Belastung. Zwar kommen die meisten Personen bei Verwandten und Freunden unter, dennoch müssen viele Menschen für eine gewisse Zeit in Notunterkünften untergebracht werden. Der erforderliche logistische Aufwand ist enorm. Zum Beispiel müssen die betroffenen Personen von den Behörden und Institutionen des Gesundheitswesens beim Verlassen des Gebiets auf radioaktive Belastung untersucht werden.
Auch auf die Umwelt hat ein KKW-Unfall sehr grosse Auswirkungen. Das kontaminierte Gebiet erstreckt sich über mehrere Tausend Quadratkilometer, wobei die Belastung mit zunehmender Entfernung vom betroffenen KKW stark abnimmt. Gewässer sind ebenfalls belastet und verschleppen radioaktive Stoffe bei zunehmender Verdünnung. Je nach freigesetztem Stoff nimmt die radioaktive Belastung unterschiedlich rasch ab, wodurch auch die Bodenkontamination bereits wenige Tage nach dem Wolkendurchzug abnimmt.
Im betroffenen Gebiet kommt die Wirtschaft vorübergehend zum Erliegen. Für die Landwirtschaft wird ein ausgedehntes Ernte- und Weideverbot ausgesprochen. Weitere Branchen wie insbesondere der Tourismus, die Lebensmittelindustrie und andere produzierende Unternehmen sind mittel- bis langfristig stark betroffen. Der Wert von Immobilien sinkt massiv, da die Dekontamination der betroffenen Wohngebiete extrem aufwändig und teuer ist. Insgesamt liegen die wirtschaftlichen Schäden in einem mittleren zweistelligen Milliardenbereich.
Risikobeurteilung
Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines KKW-Unfalls in der Schweiz mit Freisetzung einer grossen Menge an Radioaktivität wird von Fachleuten aufgrund der in der Schweiz geltenden gesetzlichen Sicherheitsvorschriften als extrem gering eingeschätzt.
Das mögliche Schadensausmass dagegen wird als sehr hoch eingeschätzt: Der monetarisierte (d.h. zu Vergleichszwecken in Geldwerte umgerechnete) Gesamtschaden des Referenzszenarios liegt im Bereich von 50 bis 100 Milliarden Franken. Von den im Rahmen des Risikoberichts untersuchten Gefährdungen liegt das Schadensausmass nur bei den Szenarien Strommangellage und Erdbeben noch höher. Daraus resultiert ein vergleichsweise tiefer Risikowert für das Szenario KKW-Unfall. In den Medien und im politischen Diskurs wird dieses Risiko häufig als wesentlich grösser wahrgenommen.
In wissenschaftlichem Gebrauch wird mit dem Begriff Risiko üblicherweise das Produkt aus der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses und dem Schadensausmass als Konsequenz aus dem Eintritt des Ereignis bezeichnet. Das Risikodiagramm ordnet die im Gefährdungskatalog behandelten Gefährdungen deshalb nach Eintrittswahrscheinlichkeit und monetarisiertem (d.h. in Geld umgerechneten) Schaden. Je weiter oben und je weiter rechts eine Gefährdung im Diagramm liegt, umso grösser ist das jeweilige Risiko. Beim Lesen des Diagramms ist zu beachten, dass die Skalen auf den beiden Achsen nicht linear, sondern logarithmisch eingeteilt sind: Die Abstände zwischen zwei Werten auf den Achsen sind als nicht (wie bei einer linearen Skala) gleich gross; ein gleicher Abstand auf der Skala entspricht vielmehr einer Potenzierung.
Vorsorge und Verhaltensanweisungen: Was können Sie tun?
Wie sollten Sie sich auf einen möglichen KKW-Unfall vorbereiten? Als wichtigste Vorbereitungsmassnahme sollten Sie sich vorsorglich über die entsprechenden Notfallschutzmassnahmen informieren. Konsultieren Sie zu diesem Zweck die vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS in Zusammenarbeit mit den betroffenen Kantonen erarbeitete Checkliste „Richtiges Verhalten bei einem Kernkraftwerksunfall“.
Um die Aufnahme von radioaktivem Jod im Körper zu minimieren, können die Behörden im Fall eines KKW-Unfalls für die gefährdeten Gebiete die Einnahme von Jodtabletten anordnen. Als zentrale Vorsorgemassnahme werden deshalb in einem Umkreis von 50 km um die KKW Jodtabletten an die Bevölkerung abgegeben. Wenn Sie zu dieser Bevölkerungsgruppe gehören: Lagern Sie die Jodtabletten in Ihrem Haushalt sicher und griffbereit. Wenden Sie sich an die Gemeindeverwaltung, wenn Sie zusätzliche Jodtabletten benötigen.
Die wichtigste Verhaltensanweisung, die Sie im Fall eines KKW-Unfalls beachten sollten, ist allgemeiner Natur: Verfolgen Sie die Informationen der Behörden und befolgen Sie die entsprechenden Anweisungen. Die NAZ und die anderen zuständigen Stellen im Bevölkerungsschutz kommunizieren im Ereignisfall Verhaltensanweisungen für die Bevölkerung über Radio und auch über weitere Kanäle. Neben der Einnahme von Jodtabletten werden auf diesem Weg weitere mögliche Schutzmassnahmen wie der geschützte Aufenthalt im Haus, Evakuierungen, Ernteverbote etc. kommuniziert. Befolgen Sie in jedem Fall diese Anweisungen.
Für den Fall des geschützten Aufenthalts im Haus beachten Sie die Empfehlungen zu Notvorrat und Notfallapotheke, für den Fall einer Evakuierung die relevanten Vorbereitungen betreffend Notunterkunft und Notgepäck. All das finden Sie im Alertswiss-Notfallplan.
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