20 November 2019

Ein Dorf rutscht ab

Wie ein Damoklesschwert hängt über dem Bündner Dorf Brienz/Brinzauls ein instabiler Berghang. Auch das Dorf selbst rutscht langsam talwärts. Mit modernsten Mitteln überwachen die Behörden die Entwicklung und planen in Szenarien Schutzmassnahmen – bis hin zur vollständigen Evakuierung des Dorfes.

Das Dorf Brienz/Brinzauls, eine Ortschaft der 2015 fusionierten Gemeinde Albula/Alvra in Mittelbünden, liegt auf einer Sonnenterrasse an der Verbindungsstrasse von Lenzerheide nach Davos auf einer Höhe von rund 1150 Metern. Das Dorf zählt knapp 100 Einwohnerinnen und Einwohner und beherbergt bis zu 200 Feriengäste. Geologische Abklärungen haben ergeben, dass der Untergrund, auf dem das Dorf errichtet wurde, vermutlich schon vor der Erbauung in Bewegung war. In den vergangenen 100 Jahren bewegte sich Brienz/Brinzauls wenige Zentimeter pro Jahr talwärts. Seit zwanzig Jahren beschleunigt sich die Rutschung kontinuierlich, insbesondere in den vergangenen zwei Jahren. Derzeit rutscht das Dorf mit einer Geschwindigkeit von über einem Meter pro Jahr talwärts.

Rutschung von 1877

Seit mindestens 140 Jahren bewegen sich auch die Hänge oberhalb des Dorfes. 1877 rutschte nordöstlich des Dorfes eine Felsmasse von rund 13 Millionen Kubikmetern ab und kam am Dorfrand zum Stillstand. Da diese Rutschung – heute «Igl-Rutsch» genannt – relativ langsam und über mehrere Wochen erfolgte, kamen keine Menschen zu Schaden. Aktuell bewegen sich die Messpunkte an der Felskante direkt oberhalb des Dorfes mit mehr als vier Metern pro Jahr talwärts.
Durch die Rutschung unter dem gesamten Dorf (Rutschung Dorf) treten bereits heute Schäden an den Gebäuden und der Infrastruktur auf. Wird sich die Rutschung weiter beschleunigen, werden Gebäude unbewohnbar und die Versorgung des Dorfes stark erschwert oder verunmöglicht.

Auch aus dem Rutschgebiet oberhalb des Dorfes (Rutschung Berg) stürzen regelmässig grosse Felsblöcke von bis zu mehreren 10 000 Kubikmetern ab und gefährden die darunterliegenden Wiesen und die Verbindungsstrasse nach Lantsch/Lenz und Lenzerheide. Die Gemeinde erliess bereits im September 2018 aus Sicherheitsgründen ein Betretungsverbot und das kantonale Tiefbauamt (TBA) richtete eine automatische Signalanlage ein zur Sicherstellung der zeitgerechten Sperrung der Kantonsstrasse.

Kernbohrungen in Brienz/Brinzauls. Mit Hilfe von Bohrungen und seismischen und geoelektrischen Untersuchungen wird versucht, den Schichtverlauf im Untergrund zu verfolgen.

Verschiedene Szenarien modelliert

Die laufenden Analysen der Experten zeigen deutliche Hinweise, dass es innerhalb weniger Jahre zu einem gewaltigen Bergsturz oder einer grossen Rutschung kommen könnte. Unter der Leitung des kantonalen Amts für Wald und Naturgefahren (AWN) wurden durch die involvierten Geologen verschiedene Szenarien modelliert.
Die Szenarien zeigen auf, dass sich die Bewegungen im Fels im besten Fall wieder verlangsamen könnten und es bei den Steinschlägen bleiben würde. Im schlimmsten Fall könnten die Felsmassen jedoch nicht nur bis nach Brienz/ Brinzauls, sondern bis hinunter an den Fluss Albula gelangen. 140 Hektaren vorwiegend landwirtschaftliche Nutzfläche würden verschüttet, der Talgrund 22 Meter hoch aufgefüllt und die Albula aufgestaut. Teile der Dörfer Vazerol, Tiefencastel und Surava und somit weitere ca. 500 Bewohnerinnen und Bewohner (inklusive Feriengäste) wären ebenfalls betroffen. Die lokale und überregionale Strom- und Glasfaserversorgung, die Kantonsstrassen und die Bahnlinie der Rhätischen Bahn in Richtung Davos und Engadin würden zerstört.

Auslaufmodellierung: Im schlimmsten Fall könnten die Felsmassen bis hinunter an den Fluss Albula gelangen.

Gemeinde und Kanton gemeinsam

Anfang April 2019 wurde aufgrund der erneut markanten Beschleunigung beider Rutschungen auf Antrag des AWN ein Teilstab des Kantonalen Führungsstabs (KFS) zu einem Orientierungsrapport einberufen und die Regierung informiert. Unter der Leitung verschiedener kantonaler Dienststellen werden seither zur Sicherstellung der regionalen und überregionalen Versorgung und Verkehrsführung für sämtliche Szenarien verschiedene Vorsorgeplanungen erarbeitet. Laufend finden mit zahlreichen Partnern Koordinationssitzungen statt.
Der Gemeindeführungsstab (GFS) führt Ausbildungen durch und initiiert die erforderlichen Vorsorgeplanungen der Gemeinde. Zur Koordination der zahlreichen Projekte auf kommunaler und kantonaler Stufe haben der Kanton und die Gemeinde Albula/Alvra eine synchronisierte Gesamtorganisation entworfen.

Gesamtorganisation «Brienzer Rutsch».

Vorsorgeplanungen

Die Vorsorgeplanungen des Teilstabs des KFS richten sich vorwiegend auf die regionalen und überregionalen Auswirkungen in den genannten Bereichen Versorgung und Verkehr aus und beziehen beispielsweise die Swisscom, Kraftwerkbetreiber, die Rhätische Bahn, Postauto Graubünden oder die Swissgrid mit ein. Zudem dient der Teilstab als Plattform zur Koordination und zum Austausch mit dem GFS. Der für die Vorsorgeplanungen zuständige Teilstab des GFS kümmert sich derweil um die Sicherheit und die Sicherung der Zukunft der betroffenen Einwohnerinnen und Einwohner und ihrer Lebensgrundlagen. Darin einbezogen sind zahlreiche kantonale Dienststellen, die Gebäudeversicherung Graubünden (GVG) und weitere Partner.

Naturgefahren in der Schweiz: Auswirkungen des Klimawandels

Lesen Sie den ganzen Artikel im Dossier Nr. 34/ November 2019 der Zeitschrift „Bevölkerungsschutz“.

Reto Hefti
Leiter Amt für Wald und Naturgefahren, Kanton Graubünden

Martin Bühler
Leiter Amt für Militär und Zivilschutz, Kanton Graubünden

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