27 April 2016

Notfallschutz bei einem KKW-Unfall: Wie ist die Schweiz vorbereitet?

Wenn bei einem KKW-Unfall grosse Mengen Radioaktivität an die Umwelt abgegeben werden, hat dies sehr schwerwiegende Auswirkungen. Die KKW-Katastrophen von Tschernobyl 1986 und von Fukushima 2011 haben dies nur allzu deutlich gemacht. Vor diesem Hintergrund sind für den Fall eines möglichen KKW-Unfalls in der Schweiz umfangreiche Notfallschutzmassnahmen vorbereitet.

In der Umgebung der beiden Katastrophenreaktoren von Tschernobyl und von Fukushima sind grössere Gebiete so stark radioaktiv belastet, dass die betroffene Bevölkerung evakuiert und dauerhaft umgesiedelt werden musste. Die „Sperrzonen“ markieren denn auch in allererster Linie das immense Schadenspotenzial bei einem KKW-Unfall: Dieses liegt weniger in unmittelbaren Personen- oder Sachschäden, als vielmehr im wirtschaftlichen Bereich: die grossräumige Evakuierung und Umsiedlung der betroffenen Bevölkerung, die Dekontamination von Gebäuden, Infrastrukturen und Böden, der langfristige Einbruch der wirtschaftlichen Entwicklung in der betroffenen Region, der tiefgreifende Imageschaden für die Region und darüber hinaus für das ganze Land – all dies zusammengenommen kann Kosten von vielen Milliarden Franken verursachen.

Entwicklung des KKW-Notfallschutzes in der Schweiz

Im Rahmen der umfassenden, nationalen Risikoanalyse Katastrophen und Notlagen Schweiz hat das Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS gemeinsam mit zahlreichen Experten auch das Szenario eines schweren KKW-Unfalls in der Schweiz systematisch analysiert.

Auch wenn die schweizerischen KKW grundsätzlich als sicher beurteilt werden – das berüchtigte „Restrisiko“ bleibt doch bestehen. Es wird in den Medien und im politischen Diskurs zudem häufig als grösser wahrgenommen, als dies den gesetzlichen Vorgaben und dem wissenschaftlichen Diskurs entspricht. Vor diesem Hintergrund hat das BABS zusammen mit weiteren Behörden auf Ebene Bund und Kantone die Aufgabe, den Schutz der Bevölkerung und ihrer Lebensgrundlagen für den Fall eines schweren KKW-Unfalls in der Schweiz möglichst gut vorzubereiten. Dazu bestehen in diversen Gesetzen und Verordnungen explizite und umfassende Vorgaben.

Panorama vom KKW Tschernobyl in der Ukraine
Das KKW Tschernobyl im Juni 2013

Die Katastrophen von Tschernobyl und von Fukushima haben auch in der Schweiz dazu geführt, dass die Notfallschutzmassnahmen für den Fall eines KKW-Unfalls in der Schweiz jeweils gründlich überprüft und weiterentwickelt worden sind. Im Nachgang von Tschernobyl ist die Nationale Alarmzentrale NAZ mit erweiterten Kompetenzen ausgestattet worden. In dringenden Fällen kann die NAZ seither bei erhöhter Radioaktivität in eigener Kompetenz Schutzmassnahmen für die Bevölkerung anordnen. Das Labor Spiez war nach der Katastrophe in Tschernobyl vor Ort im Einsatz. In der Schweiz wurden die Messkapazitäten für ein radiologisches Ereignis stark ausgebaut. Dies gilt sowohl für den professionellen Kern im Labor Spiez und der speziellen Milizformation der Armee, welche eine rasche personelle Verstärkung ermöglicht. Die Durchhaltefähigkeit der Probenahme- und Messorganisation des Bundes bei erhöhter Radioaktivität ist heute denn auch auf einem sehr hohen Niveau sichergestellt.

Auch die internationale Zusammenarbeit ist nach Tschernobyl wesentlich verbessert und thematisch ausgebaut worden. Der internationale Informationsaustausch bei sicherheitsrelevanten Ereignissen in einem KKW ist heute sehr gut etabliert; der Meldeprozess wird zur Vertrauensbildung in dem internationalen Netzwerk auch bei niederschwelligen Ereignissen genutzt. Die aufgeführten Kompetenzen sind zudem näher zusammengeführt worden: Sowohl die NAZ wie das LABOR SPIEZ gehören heute zum BABS. Die NAZ ist dabei in allen Bereichen als Einsatzorganisation des Bundes in die Bewältigung von Katastrophen und Notlagen einbezogen.

Explosion im KKW Fukushima am 11. März 2011
Explosion im KKW Fukushima am 11. März 2011

Nach der KKW-Katastrophe von Fukushima sind die Erfahrungen aus dem Blickwinkel des schweizerischen Notfallschutzes erneut gründlich und umfassend analysiert worden. Unter Federführung des BABS konnte 2015 dem Bundesrat das grundlegend überarbeitete Notfallschutzkonzept zur Bewältigung eines KKW-Unfalls in der Schweiz unterbreitet werden. Fachlich sind damit die erforderlichen Grundlagen vorhanden; zur Umsetzung von einzelnen geplanten Verbesserungsmassnahmen müssen im nächsten Schritt nun die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen angepasst werden.

Umfassende Notfallschutzmassnahmen vorbereitet

Oberstes Ziel aller Notfallschutzmassnahmen für den Fall eines KKW-Unfalls ist es, die Strahlenbelastung für die betroffene Bevölkerung möglichst gering zu halten. Etwas vereinfacht dargestellt sind in der Schweiz die folgenden Schutzmassnahmen konzeptionell ausgearbeitet und zur Umsetzung im Ereignisfall vorgesehen.

  • Die vorsorgliche Information der Bevölkerung: Zu diesem Zweck geben die Kantone bzw. die Gemeinden in den Zonen 1 und 2 rund um die KKW – das heisst in einem Radius von ca. 20 km – schriftliche Informationsunterlagen an alle Haushaltungen ab. Sie umfassen Hintergrundinformationen zu den Notfallschutzmassnahmen und auch eine einfache Checkliste zum richtigen Verhalten im Falle eines KKW-Unfalls.

Checkliste Richtiges Verhalten bei einem KKW-Unfall

    Checkliste Richtiges Verhalten bei einem KKW-Unfall
  • Der geschützter Aufenthalt im Haus: In der Schweiz sind die meisten Häuser solide gebaut und verfügen über einen Keller und/oder einen Schutzraum. Durch den Aufenthalt im Haus bzw. im Keller oder Schutzraum während des Durchzugs der radioaktiven Wolke kann die radioaktive Belastung massiv reduziert werden. Daher kann als eine zentrale Schutzmassnahme der Aufenthalt im Gebäude angeordnet werden.
  • Die rasche Alarmierung und Information im Ereignisfall: Zu diesem Zweck gelten für die Gemeinden in den Zonen 1 und 2 erhöhte Anforderungen zur Bereitschaft der Alarmierungssysteme.
  • Die Einnahme von Jodtabletten: Bei einem KKW-Unfall kann radioaktives Jod freigesetzt werden. In einem solchen Fall ordnen die Behörden die Einnahme von Kaliumiodid-Tabletten (kurz Jodtabletten) an. Die rechtzeitige Einnahme dieser Tabletten verhindert, dass sich über die Atemluft aufgenommenes radioaktives Jod in der Schilddrüse anreichert. Damit die Jodtabletten im Ereignisfall schnell verfügbar sind, sind sie in den Gemeinden im Radius von 50 km rund um die KKW an alle Haushalte, Betriebe, Schulen usw. verteilt worden. In Apotheken und Drogerien sind weitere Tabletten eingelagert, damit im Ereignisfall eine Notfallabgabe sichergestellt ist. Weitere Informationen finden Sie hier.
Kaliumiodid Tabletten der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Kaliumiodid Tabletten der Schweizerischen Eidgenossenschaft
  • Die vorsorgliche Evakuierung der Bevölkerung aus dem betroffenen Gebiet: Wenn genügend Zeit zur Verfügung steht, bevor eine radioaktive Wolke vorüberzieht, kann die Bevölkerung aus einem gefährdeten Gebiet evakuiert werden. Dabei darf der Begriff „Evakuierung“ nicht falsch verstanden werden: Im Wesentlichen wäre dies eine Aufforderung der Behörden an die Bevölkerung, ein bestimmtes Gebiet zu verlassen. Der grösste Teil der Bevölkerung würde sich also selber evakuieren, mit eigenen Transportmitteln und an einen selbst gewählten Ort. Die Leute würden zum Beispiel zu Verwandten oder Freunden gehen oder in ein Feriendomizil. Nur mit Bezug auf besonders hilfsbedürftige Personen sowie für spezielle Einrichtungen wie Spitäler und Heime würden die Behörden die Evakuierung durch Transportleistungen aus dem Evakuierungsgebiet und die Bereitstellung von Notunterkünften ausserhalb des gefährdeten Gebiets selber umsetzen.
  • Massnahmen im Bereich der Landwirtschaft und des Lebensmittelhandels: Um zu verhindern, dass freigesetzte radioaktive Substanzen via Nahrungsmittel in den Körper gelangen, können belastete Produkte als Lebensmittel oder als Tierfutter gesperrt werden.

Flexibilität und Zusammenarbeit als Schlüsselfaktoren

Welche Massnahmen im Falle eines KKW-Unfalls tatsächlich beschlossen und umgesetzt würden, ist nicht zum Voraus definiert: Vielmehr können je nach konkreter Situation die jeweils angezeigten und möglichen Massnahmen rasch angeordnet werden. Die Führung bei der Bewältigung eines KKW-Unfalls liegt grundsätzlich auf Bundesebene. Dazu gibt es einen speziellen Katastrophenstab: den Bundesstab ABCN. Umgesetzt werden die Massnahmen dann aber zum grossen Teil von den Einsatzkräften des Bevölkerungsschutzes, d.h. insbesondere von der Polizei, der Feuerwehr, dem Zivilschutz und den betroffenen technischen Betrieben. Damit sind für die Umsetzung vor Ort im Wesentlichen die Kantone und Gemeinden zuständig.

Eine weitere wichtige Ebene der Notfallvorsorge erstreckt sich auf die Ausbildung und Übung der beteiligten Stellen: In der Schweiz wird die Bewältigung eines KKW-Unfalls von den Betreiberorganisationen der KKW und den beteiligten Behörden regelmässig und umfassend geübt. Zu diesem Zweck findet alle 2 Jahre eine „Gesamtnotfallübung“ statt. Das Szenario KKW-Unfall ist damit dasjenige Katastrophenszenario, welches in der Schweiz am intensivsten geübt wird. Die letzte GNU wurde 2015 durchgeführt.

Ein Einsatzraum der NAZ, sämtliche Arbeitsplätze sind besetzt, teils durch Zivilpersonen, teils durch Angehörige der Armee in Uniform. Sämtliche Personen tragen verschiedenfarbige Westen zur Funktionskennzeichnung.
Eindruck der GNU in der NAZ 2015

Als Fazit darf sicherlich festgehalten werden, dass die Vorbereitungen der Schweiz auf einen KKW-Unfall im internationalen Vergleich auf einem sehr hohen Niveau stehen.

Auch mit der besten Vorsorge lässt sich aber kein absoluter Schutz gewährleisten. Die Frage nach dem erforderlichen Schutzgrad – und damit verknüpft: nach dem richtigen Verhältnis von Kosten und Nutzen bei den Notfallschutzmassnahmen – kann nicht auf der Ebene der Fachbehörden beantwortet werden. Dabei geht es um politische Beurteilungen, die daher auch auf politischer Ebene entschieden werden müssen.

Weitere Hintergründe und Informationen können Sie in der SRF1-Sendung „Doppelpunkt“ vom 26.04.2016 nachhören, inklusive Interview mit Benno Bühlmann, dem Direktor des BABS.

 

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