Extremhochwasser dank neuem Online-Tool besser verstehen
Die Hochwasser und Überschwemmungen in Deutschland im Sommer 2021 waren sintflutartig und überschritten den bisherigen Erfahrungsbereich bei weitem. Sogar Expertinnen und Experten konnten sich das zerstörerische Ausmass dieser Hochwasser kaum vorstellen. Forschende des Mobiliar Labs für Naturrisiken an der Universität Bern haben nun solche extremen Hochwasserereignisse simuliert und darauf basierend ein digitales Werkzeug entwickelt, welches extreme Hochwasser in ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension visualisieren.
Dem Restrisiko auf der Spur
Auch in der Schweiz sind Extremhochwasser, die sich im Bereich des sogenannten Restrisikos bewegen, jederzeit möglich, wie neueste Forschungsergebnisse des Mobiliar Labs für Naturrisiken der Universität Bern belegen. Das Sommerhochwasser 2021 in Deutschland ist geradezu ein Aufruf, dem Restrisiko eine noch grössere Aufmerksamkeit zu widmen, und dies gerade auch aus Sicht des Bevölkerungsschutzes. Zwar wird auch beim Hochwasserschutz oft vom Restrisiko gesprochen, aber es ist schwierig sich extreme Hochwasserereignisse jenseits unseres Erfahrungsschatzes vorzustellen. Forschende des Mobiliar Labs für Naturrisiken an der Universität Bern haben deshalb extreme Hochwasserereignisse simuliert und darauf basierend ein digitales Werkzeug (www.hochwasserdynamik.ch) entwickelt, welches extreme Hochwasser in ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension visualisieren. Eine Zoom-Funktion erlaubt es, diese Extremereignisse sowohl im nationalen Kontext wie auch auf lokaler Ebene z.B. aus der Sicht einzelner Häuser und Wohnquartiere zu betrachten.
Neue Sicht auf die Dynamik von extremen Hochwasserereignissen
Neun extreme Niederschlagsszenarien bildeten den Ausgangspunkt der Simulationen. Diese wurden aus Wettervorhersagemodellen abgeleitet. Sie sind glücklicherweise bisher noch nicht aufgetreten, aber jederzeit möglich. Extreme Niederschlagereignisse haben besondere «Eigenschaften». Allen gemeinsam ist die grosse räumliche Betroffenheit. Innert kürzester Zeit führen viele Bäche und Flüsse sehr grosse Abflussmengen. In der Folge kommt es vielerorts zu Überschwemmungen beträchtlichen Ausmasses. Zudem sind Gebäude und Infrastrukturen in verschiedenen Einzugsgebieten und an unterschiedlichsten Orten gleichzeitig betroffen. So entstehen nie dagewesene Schäden. Beim schlimmstmöglichen Ereignis könnten Gebäudeschäden zwischen 5 und 6 Milliarden Franken auftreten, was die gesamten ökonomischen Schäden von 3 Milliarden Franken des Jahrhunderthochwassers in der Schweiz von 2005 bei weitem übertrifft.
Relevanz von Strassenunterbrechungen
Die Simulationen beschränken sich aber nicht nur auf die räumlich-zeitliche Dynamik der Überschwemmungen und der daraus resultierenden Schäden. Sie zeigen vielmehr auch, wie die Verkehrswege betroffen sind, wo es zu Unterbrüchen von Strassenverbindungen kommt und auf welche Routen ausgewichen werden muss. Im Worst Case-Szenario werden derart viele Strassen unterbrochen, dass gesamtschweizerisch Umfahrungen und Umleitungen von insgesamt 3000 km notwendig sind, um den Verkehr einigermassen aufrechtzuerhalten. Dies entspricht in etwa der Strecke von Genf bis zum Nordkap. Solche Strassenunterbrüche sind auch für die Einsatzkräfte von hoher Relevanz, wie das Beispiel des Starkregens in Zofingen im Juli 2017 eindrücklich belegt: Die SBB-Linie Olten-Luzern trennt die Stadt in zwei Teile. Beim Starkregenereignis wurden alle Bahnunterführungen überflutet, sodass die Stadtteile voneinander abgeschnitten waren. Das hatte weitreichende Folgen: Den Einsatzkräften war der direkte Zugang zum westlichen Stadtteil abgeschnitten, und sie mussten Umwege bis zu 20 km in Kauf nehmen. Aber nicht nur das: Die Einwohnerinnen und Einwohner, welche vor dem Regen nach Hause eilten, überquerten die vielbefahrene SBB-Strecke. Das Tool Hochwasserdynamik hilft, solche unerwarteten Auswirkungen zu antizipieren und entsprechende Planungen einzuleiten.
Ein wertvolles Tool für den Bevölkerungsschutz
Grosse räumliche Betroffenheit, Gleichzeitigkeit, gewaltige Schäden, unterbrochene Verkehrswege: Diese Stichworte beschreiben nicht nur das Aussergewöhnliche extremer Hochwasserereignisse, sondern zeigen dem Bevölkerungsschutz klar auf, wie wichtig es ist, sich mit solchen Hochwasserkatastrophen auseinanderzusetzen, und zwar bevor sie sich ereignen. Denn: Eine koordinierte überregionale Notfallplanung ist der Schlüssel, um mit solchen Situationen umgehen zu können. Und genau dafür wurde das digitale Werkzeug «Hochwasserdynamik» geschaffen: Durch das Antizipieren solch dramatischer Abläufe mittels einer sorgfältigen Massnahmen- und Evakuierungsplanung lassen sich ein unüberlegtes Handeln, Panik oder gar Chaos vermeiden. Bisherige Hochwasserschutzmassnahmen, welche auf den Erfahrungen der Hochwasser der letzten Jahrzehnte aufbauen, können bei extremen Ereignissen nicht nur versagen, sondern es ist auch mit neuen und unerwarteten Situationen zu rechnen. Das Tool ermöglicht es, solche Situationen in die Vorsorgeplanung mit einzubeziehen.
Das Undenkbare visualisieren, um vorbereitet zu sein
Das digitale Werkzeug gibt dem Undenkbaren also Inhalt und Form, ausgedrückt in einem dynamischen Kartenbild. Letzteres hilft, auf Extremereignisse besser vorbereitet zu sein. Die neun simulierten Extremniederschlagsereignisse sind zwar nur eine Auswahl möglicher Abläufe. Es können auch ganz andere Situationen auftreten. Trotzdem sind sie sehr wertvoll, schärfen sie doch den Blick für das Aussergewöhnliche. Das Tool «Hochwasserdynamik» ist nun bereits das vierte Werkzeug, das zur Unterstützung der Praxis im Bereich der Hochwasserrisiken entwickelt wurde. Diese Tools führen von der Hochwassergefahr über den Schadensimulator zur hier beschriebenen «Hochwasserdynamik».
Autoren:
Rolf Weingartner
Prof. em. Dr. phil. nat., ehemaliger Co-Leiter des Mobiliar Labs, Hydrologe und Geograph
Rouven Sturny
Gesamtkoordinator Mobiliar Lab; Umweltnaturwissenschafter ETHZ
Forschungsinitiative Hochwasserrisiko
Hochwasser sorgen nicht nur für viel Leid bei der betroffenen Bevölkerung, sondern verursachen auch hohe Kosten. Kein anderes Naturereignis kommt die Schweiz so teuer zu stehen wie Hochwasser. In den vergangenen 40 Jahren waren vier von fünf Schweizer Gemeinden von Hochwasserschäden betroffen. Das Mobiliar Lab für Naturrisiken der Universität Bern hat deshalb die «Forschungsinitiative Hochwasserrisiko – vom Verstehen zum Handeln» ins Leben gerufen. Sie bietet fundierte Grundlagen und innovative Tools für den nachhaltigen Umgang mit Hochwasserrisiken.