25 Februar 2022

Strategische Vorausschau für den ABC-Schutz

Wenn wir zukünftige Risiken mit geringer Wahrscheinlichkeit und großen Auswirkungen antizipieren, überwachen und reduzieren wollen, können wir uns nicht nur an der Vergangenheit orientieren. Die strategische Vorausschau kann uns dabei helfen, Ungewissheiten zu reduzieren und das Risikomanagement und die Vorsorge besser mit Informationen zu versorgen.

Die COVID-19 Pandemie hat das Leben fast aller Menschen auf der Welt schlagartig verändert. Sie verursachte bisher mehr als fünf Millionen erfasste sowie ein Mehrfaches an unerfassten Todesfällen. Die Pandemie veränderte die Art und Weise, wie wir reisen, arbeiten und soziale Kontakte pflegen. Sie reduzierte die globale Wirtschaftsleistung um Billionen von Dollar und stellt die Lieferketten bis heute vor schwerwiegende Probleme. Gleichzeitig ist es wichtig, dass der Lernprozess aus der COVID-19 Pandemie nicht überspezifisch wird. Es kann nicht das Ziel sein, sich exakt auf eine Pandemie wie die letzte vorzubereiten, sondern das Ziel muss es sein, sich auf die nächste Pandemie, respektive auf den nächsten Stromausfall oder auf den nächsten Cyberangriff auf eine Chemiefabrik vorzubereiten.

Wenn wir zukünftige Risiken antizipieren, überwachen und reduzieren wollen, können wir uns nicht nur an der Vergangenheit orientieren.

Kevin Kohler, CSS ETH Zürich

Wenn wir zukünftige Risiken mit geringer Wahrscheinlichkeit und großen Auswirkungen antizipieren, überwachen, und reduzieren wollen, können wir uns nicht nur an der Vergangenheit orientieren. Das vernetzte System an Technologien wächst ständig durch die Erfassung und Nutzung natürlicher Phänomene (z.B. Proteinsynthese im Körper durch Ribosomen die mRNA lesen) sowie durch neue Kombinationen und Konfigurationen von bestehenden Technologien (z.B. Genomsequenzierung + mRNA Synthese + Lipid-Nanopartikel + künstliche Kühlung + Spritze = mRNA Impfung).

Wie gut lässt es sich in die Zukunft blicken? (Bild: Pexels, James Frid)

Gerade im atomaren, biologischen, und chemischen (ABC) Bereich bringen technologische Entwicklungen nebst neuen Chancen auch neue signifikante Risiken mit sich. Dabei geht es einerseits um Fortschritte innerhalb der Forschungsfelder selber, wie etwa die CRISPR/Cas-Methode, welche es erlaubt, DNA-Sequenzen gezielt zu schneiden und zu verändern. Andererseits können sich Entwicklungen aus anderen Feldern auch relativ schnell auf Möglichkeiten zur Entwicklung, Produktion oder Verbreitung von ABC-Stoffen auswirken. So benutzten etwa chinesische Kriminelle 2019 gemäss Medienberichten  unbemannte Fluggeräte, um das Afrikanische Schweinepestvirus zu verbreiten, um so im Anschluss von steigenden Schweinefleischpreisen zu profitieren.

Wieso strategische Vorausschau?

Vorausschau ist ein Überbegriff für qualitative und quantitative Methoden zur Erforschung der Zukunft. Dazu gehört unter anderem die Früherkennung von möglichen Trends (Horizon Scanning), die Analyse von Trends, das Vorhersagen von Ereignissen basierend auf Expertenurteile und/oder statistischen Modellen, die Entwicklung von Szenarien, sowie darauf basierende Übungen. Die Vorausschau ist keine magische Kristallkugel, welche die Ungewissheit gänzlich eliminieren kann, dafür ist die Welt schlicht zu komplex und chaotisch. Sie ist auch kein Ersatz für das Sammeln von empirischen Daten oder den Aufbau resilienter Strukturen mit gewissen Redundanzen und Ressourcen, welche flexibel eingesetzt werden können. Die strategische Vorausschau kann Organisationen jedoch dabei helfen, Ungewissheiten zu reduzieren und somit das Risikomanagement und die Vorsorge besser mit Informationen zu versorgen.

Der Zukunftskegel – eine Visualisierung von bevorzugten, plausiblen und möglichen Zukunftsszenarien

Letztendlich gibt es schon heute viele Entscheidungen bezüglich Forschungsbudgets und materiellen Anschaffungen bis hin zu Organisationsstrukturen und Trainingsinhalten, die sich auf die Zukunft auswirken. Unabhängig davon, ob sie durch unsere besten Bemühungen um Vorausschau untermauert werden oder nicht. Ausserdem lassen sich die meisten technologischen Entwicklungen, Bedrohungen und Chancen in ihrer Entstehungsphase leichter kontrollieren, gestalten, oder verändern. In einem späteren Stadium, wenn ein dominantes Design vorliegt, lassen sich die Auswirkungen der Technologie dafür leichter überwachen und vorhersagen. Das soziotechnische System weist dann jedoch aufgrund von Faktoren wie Infrastruktur- und Ausbildungsinvestitionen, Netzwerkeffekten und Versorgungsketten eine viel grössere Trägheit auf. In der Wissenschafts- und Technikforschung ist dies als „Collingridge-Dilemma“ bekannt. Ein konkretes Beispiel dafür ist das Internet. Das vertrauensbasierte Border Gateway Protokoll, welches den Datenaustausch zwischen Computernetzwerken im Internet regelt, wurde in den späten 1980er Jahren und den 1990er Jahren in kurzer Abfolge entwickelt und mehrmals überarbeitet. Heute sind wir uns der Sicherheitsprobleme des Internets deutlich besser bewusst als damals, aber es ist ein schwieriger und langsamer Prozess, an einem so weit verbreiteten Standard nachträglich etwas zu ändern.

Neuartige Szenarien

Eine qualitative Methode zur strategischen Vorausschau im ABC-Bereich ist zum Beispiel die Organisation von Workshops um neuartige Referenzszenarien zu definieren. Szenarien sind keine Vorhersage, sondern ein Instrument zur Erforschung der Abläufe, Folgen und dem Zusammenspiel zwischen verschiedenen Akteuren bei einem möglichen zukünftigen Ereignis, das aufgrund von dessen Plausibilität und erwarteten Folgen als relevant identifiziert wurde.

Ein naheliegendes Beispiel für Übungen und Planungen von Szenarien ist die extensive Vorbereitung auf eine Grippepandemie. Die Definition von neuen Szenarien kann dabei durch Kreativitätstechniken unterstützt werden, welche zur systematischen Erkundung von Kombinationen von Schlüsseltechnologien der Zukunft, Branchen, Anwendern und Geschäftsmodellen anregen. Aufgrund der möglichen Präsenz von Informationen, welche es Gefährdungsakteuren ermöglichen würden, Schaden zu verursachen, eignen sich in diesem Fall jedoch nur geschlossene Workshops.

Sind erste Szenarien definiert, lassen sich deren Dynamiken und Vorstufen in weiteren Workshops durch „backcasting“ und den Aufbau von Szenariokarten, welche Interdependenzen zwischen verschiedenen Szenarien, Faktoren, und Meilensteinen aufzeigen, erkunden. Wenn sich aus den Szenarien die Wichtigkeit von gewissen Schlüsselinfrastrukturen oder Organisationen herauskristallisiert, können deren Pläne und Annahmen auch mittels einem Red Team, also einer Gruppe, welche die Rolle von Gefährdern spielt, getestet, analysiert, und hinterfragt werden. Für die wichtigsten identifizierten Bedrohungsszenarien können grössere Krisenübungen zudem weiter dazu beitragen, das komplexe Zusammenspiel der Organisationen bei einem Zwischenfall zu verbessern.

Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich

Das Center for Security Studies an der ETH Zürich begleitet die Eidgenössische Kommission für ABC-Schutz (KomABC) bei der Umsetzung der Empfehlung C3 der Strategie „ABC-Schutz Schweiz 2019″, in welcher es darum geht eine Gruppe aufzubauen welche „ein breites Spektrum möglicher neuartiger Entwicklungen und Ereignisse im ABC-Schutz“ antizipiert. Der Report „Strategic Foresight: Knowledge, Tools, and Methods for the Future“ bietet einen generischen Überblick über Methoden der strategischen Vorausschau.

Autor: Kevin Kohler, Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich

Weitere Informationen

Beitrag teilen:

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *