Die Schweiz ist ein Erdbebenland
Stefan Wiemer ist Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes und Professor an der ETH Zürich mit Aufgaben in der Forschung, in der Lehre und im Einsatz. Für den Bevölkerungsschutz ist er zugleich Mahner und Berater im Bereich einer seltenen, aber zerstörerischen Naturgefahr.
Das Erdbeben von Basel ist 663 Jahre her und hat eine Wiederkehrperiode von etwa 1500 Jahren. Ab wann müssen wir uns Sorgen machen?
Wir sollten uns nicht zu sehr auf Basel fokussieren – die Schweiz insgesamt ist ein Erdbebenland. Ein ähnlich starkes Beben kann sich schon morgen ereignen, und zwar fast überall in der Schweiz. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist zwar nicht an allen Orten gleich und sie ist vielleicht nicht sehr hoch, aber real. Und leider folgen Erdbeben keinem einfachen Rhythmus.
Ist die Sensibilität für grosse Erdbeben in der Schweiz genügend gross?
Starke Beben ereignen sich so selten, dass uns diese Gefahr nicht so präsent ist wie Lawinen oder Stürme. Das Schadensausmass eines starken Bebens wäre aber gewaltig. Das Bewusstsein ist in den letzten dreissig Jahren gewachsen – Baunormen wurden entwickelt, Übungen werden durchgeführt, da passiert schon etwas. Die Frage ist natürlich immer: wann genügt es?
Was sind aus Ihrer Sicht die Schwierigkeiten in der Ereignisbewältigung?
Nach einem grossen Beben steigt kurzfristig die Wahrscheinlichkeit für ein noch stärkeres Beben. Zwar nur im kleinen Prozentbereich, aber die Folgen könnten gravierend sein. Soll man die Leute nun auffordern, die Häuser zu verlassen? Auch bei Wind und Wetter? Unabhängig davon folgen auf ein grosses Beben über Wochen teils heftige Nachbeben. Diese können beschädigte oder wieder instand gestellte Infrastrukturen ganz zerstören. Dies bedeutet eine ungeheure psychische Belastung, und ein solches Szenario wäre eine riesige Herausforderung für alle Betroffenen.
Der Erdbebendienst macht einen interessanten organisatorischen Spagat: Sie sind eine Forschungs- und Lehreinrichtung, gleichzeitig aber auch eine Einsatzorganisation mit Pikettdienst. Funktioniert das?
Ich sehe diese Kombination eindeutig als Erfolgsmodell. Es ermöglicht uns, den Forschungsstand rasch an die Front zu bringen. Es ist auch für unsere Mitarbeitenden durchaus interessant: Wenn etwas passiert, werden alle eingespannt und helfen mit. Wir sind auch sehr gut eingebunden, etwa in den Bundesstab Bevölkerungsschutz oder den Fachstab Naturgefahren.
Die Erdbebenmeldungen kommen in der Regel direkt nach einem Beben. Was tun Sie dann?
Zuerst einmal: Das Wichtigste für uns ist, dass die Information über ein Beben rasch und zuverlässig vorliegt. Unsere Organisation muss sofort und ohne Vorwarnung funktionieren und darf weit möglichst keine Fehlalarme produzieren. Bei einem gut spürbaren Beben gibt es eine riesige Nachfrage nach Information von Medien und der Bevölkerung – unsere Website www.seismo.ethz.ch verzeichnet sofort zehntausende Anfragen. Wir fahren unsere Notfallorganisation also umgehend hoch und beraten auch die Einsatzorgane des Bundes und der Kantone.
Gibt es weitere Dienstleistungen für den Bevölkerungsschutz?
Unser Auftrag ist auch, die Menschen über diese Gefahr zu informieren und zu beraten. Das schliesst den Bevölkerungsschutz mit ein. Wir planen für 2019 einen Anlass extra für Bevölkerungsschützer, um den Informationsstand hochzuhalten und zu verbessern. Wir verstehen uns immer auch ein bisschen als Mahner, damit Erdbeben als seltene, aber gefährliche Ereignisse auf der Agenda bleiben. Das risikobasierte Erdbebenmodell, an dem wir momentan bauen, wird auch für den Bevölkerungsschutz relevant sein.
Worum geht es da?
Die klassische Gefährdungskarte sagt aus, wo es mit welcher Wahrscheinlichkeit wie stark schüttelt. Wir haben nun das Mandat, ein Risikomodell zu erstellen: Wir ziehen also in Betracht, wo welche Gebäude stehen, auf welchem Untergrund sie stehen und wo wie viele Leute leben. Damit entsteht eine neue Abschätzung, genauer und fokussiert auf den möglichen Schaden – der finanzielle Schaden pro Quadratkilometer ist in Zürich und Bern zum Beispiel oft grösser als im Wallis. Das Risikomodell ermöglicht auch einen sinnvollen Vergleich zu anderen Risiken.
Das vollständige Interview mit Stefan Wiemer finden Sie in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Bevölkerungsschutz“.
Dossier: Totalrevision des Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetzes (BZG)
In diesem Jahr befasst sich das Parlament mit der Totalrevision des Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetzes (BZG). Der Bundesrat will mit dem Projekt, das er im November 2018 präsentiert hat, den Bevölkerungsschutz modernisieren. Zu diesem Zweck hat er auch die Botschaft zu einem Verpflichtungskredit für ein nationales sicheres Datenverbundsystem verabschiedet. Die Nr. 32/2019 von „Bevölkerungsschutz“ beschreibt die Pläne des Bundesrates.