„Die Schweiz steht im internationalen Vergleich sehr gut da.“
Der neue PLANAT-Präsident Bruno Spicher spricht im Interview anlässlich der PLANAT Plattformtagung vom 13. April 2016 über seine Erfahrungen mit Naturgefahren und im Risikomanagement und teilt seine Eindrücke zur Arbeit der PLANAT mit. Dabei beleuchtet er die Ziele der PLANAT, lobt bisherige Erfolge und identifiziert Herausforderungen. Er blickt in die Zukunft und betont die Anliegen, auf die er als Präsident besonders fokussieren möchte. Es kommt ebenfalls zur Sprache, welche Forderungen die Politik an die ausserparlamentarische Kommission stellt und umgekehrt welche Erwartungen die PLANAT an die Politik hat.
Haben Sie schon persönliche Erfahrungen mit Naturgefahren gemacht?
Ja, in mehreren Bereichen. Im Militär habe ich ein Rettungsbataillon geführt und konnte bei der Bewältigung bzw. bei Aufräumarbeiten nach Überschwemmungen und nach Sturmschäden helfen.Dann ist bei mir zuhause schon mehrfach der Keller unter Wasser gestanden. Ich wohne an einem sehr schönen Ort, das Haus befindet sich jedoch neben einem Bach, der von Zeit zu Zeit über die Ufer tritt. Mittlerweile bin ich mit Pumpen und Schläuchen ausgerüstet und habe auch Rückstauklappen montieren lassen.
Am meisten Berührungspunkte habe ich aber im beruflichen Umfeld. Seit Jahrzehnten beschäftige ich mit der Versicherung von Naturgefahren.
Ein grösseres Ereignis, beispielsweise ein stärkeres Erdbeben, haben Sie persönlich nie erlebt?
Doch, stimmt! Als ich in San Francisco am College war, erlebte ich ein Erdbeben. Für lokale Gegebenheiten eher ein kleines – aber für mich war es schon eindrücklich, als die Dosen auf den Gestellen im kleinen Laden, in dem ich mich befand, plötzlich wackelten und auf mich zugekommen sind. Die Einheimischen haben jedoch kaum reagiert.
Woher stammt Ihr Interesse an Naturgefahren?
Das Interesse hat sich so ergeben – einerseits durch meine militärische, andererseits durch meine berufliche Tätigkeit. Ich war schon immer in der Versicherungswirtschaft tätig, mit Fokus auf Elementarschaden- und Sachversicherung. Beide Faktoren haben sich gegenseitig beeinflusst und mich schliesslich hierher geführt.
Welche Ausbildung und beruflichen Hintergrund haben Sie?
Ich habe eine versicherungstechnische und eine betriebswirtschaftliche Ausbildung. In meiner beruflichen Tätigkeit hatte ich die Möglichkeit, mich schon früh mit grösseren Risiken auseinanderzusetzen. So war ich viele Jahre für den Schweizerischen Versicherungsverband im Zusammenhang mit der nationalen Elementarschadenversicherung tätig, war Präsident des Schweizerischen Pools zur Versicherung von Nuklearrisiken und war auch verantwortlich dafür, dass wir in der Schweiz nach den Anschlägen vom 11. September 2011 rasch wieder Versicherungsschutz als Folge von Terrorereignissen anbieten konnten.
Sie waren auf Gemeindeebene politisch tätig. Konnten Sie dabei Erfahrung mit dem Management von Naturgefahren sammeln?
Ich war Gemeindepräsident der kleinen Gemeinde Münchringen im Kanton Bern, die 2014 mit Jegenstorf fusionierte. Wir behandelten regelmässig das Thema Naturgefahren, da, wie bereits erwähnt, ein Bach durch die Gemeinde fliesst. Bei der Durchführung eines Renaturierungsprojekts stellte ich fest, dass die Kommunikation auf Stufe der Gemeinden oft Schwierigkeiten bereitet. Es wissen zwar alle, dass beispielsweise eine Überschwemmung jederzeit stattfinden könnte – die Notwendigkeit der Umsetzung von Massnahmen wird hingegen häufig nicht erkannt bzw. kann den Bürgern nicht genügend klar vermittelt werden. Letztlich sind ja die Stimmbürger und nicht die Fachleute zu überzeugen, denn die Bürger sprechen die nötigen Kredite.
In einer Medienmitteilung im Oktober 2013 werden Sie zitiert, dass sich Unternehmen, aber auch Private und die öffentliche Hand in der Schweiz besser auf die Auswirkungen von Unwettern vorbereiten als beispielsweise in den USA. Steht die Schweiz im internationalen Vergleich so gut da?
Ich denke – nein, ich bin überzeugt, dass wir im Vergleich in der Tat sehr gut dastehen! Dies hat einerseits der Global Assessment Report on Disaster Risk Reduction 2011 gezeigt, andererseits merken wir es auch selbst. Wenn etwas passiert, sei es eine Überschwemmung, ein Sturm, Steinschläge oder andere Ereignisse, sind wir in relativ kurzer Zeit wieder einsatzfähig. Hier müssen wir unterscheiden zwischen der unmittelbaren Intervention beim Ereignis und der Phase nach dem Ereignis. Die Intervention funktioniert in allen vergleichbaren Ländern sehr gut. Der Wiederaufbau läuft bei uns aber schneller ab. Dazu braucht es funktionierende staatliche Strukturen, welche die Führung übernehmen können; es braucht Fachleute; und es braucht die Energie und das Engagement von Privaten und Unternehmungen, die den Wiederaufbau in die Hand nehmen und nicht abwarten, dass er von einer anderen Stelle erledigt wird. Da hilft sicher unser Wohlstand – wir haben sowohl die Fachleute, die den Wiederaufbau organisieren und umsetzen können, als auch die finanziellen Mittel dazu. Sicher hilft aber auch unser Versicherungssystem. Dank der gesetzlich verankerten Elementarschaden-Versicherung haben Unternehmen und Private die Gewissheit, dass der Wiederaufbau finanziert wird. Dies gibt sozusagen eine Initialzündung und setzt Energie frei für die Wiederherstellung. Andernorts wird lange zugewartet, weil nicht klar ist, ob der Wiederaufbau finanziert wird, und wenn schon, von wem. Diese schnelle Wiederherstellung in den Zustand vor dem Schadenereignis ist ein enormer Vorteil der Schweiz im Wettbewerb der Volkswirtschaften. Infrastrukturen funktionieren rasch wieder und Unternehmen können nach kurzer Zeit wieder produzieren. Das schmälert die Ausfälle und stärkt zudem das Vertrauen in die Geschäftspartner.
Neben den Unterschieden im Versicherungssystem ist ja auch das politische System der Schweiz einzigartig. Wie wirken sich unseren dezentralen Struktur auf das Risikomanagement aus?
Der Föderalismus hat Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist, dass die lokalen Behörden besser über die Strukturen vor Ort informiert sind. Dagegen fehlt häufig im Milizsystem das nötige Wissen. Politische Amtsträger sind oft nicht mit dem Umgang mit Naturgefahren vertraut und nicht im Risikomanagement ausgebildet. Generell denke ich jedoch nicht, dass unser politisches System negative Auswirkungen auf die Ereignisbewältigung hat.
Gibt es Ihrer Auffassung nach auch Grenzen für den möglichen Schutz vor Naturgefahren?
Es gibt keine messerscharfe Trennung zwischen den verschiedenen Schutzniveaus – die Grenze verläuft eher fliessend. Eine Grenze liegt sicher im Raum der nicht vermeidbaren Naturgefahren. An einem Hang, der häufig von Erdrutschen betroffen ist, sollte nicht gebaut werden – denn zukünftige Erdrutsche können nicht verhindert werden. Organisatorische und finanzielle Kosten bilden eine weitere Grenze: Wenn ein Risiko nicht in vernünftigem Rahmen verkleinert werden kann, muss eine andere Lösung gefunden und nicht eine weitere organisatorische Massnahme angeordnet werden, deren volkswirtschaftliche Kosten den Nutzen übersteigt.
Stichwort Risikotoleranz: Gehen wir als Gesellschaft mit unseren Risiken – nicht nur mit Naturgefahren – Ihrer Meinung nach grundsätzlich vernünftig um?
Wir haben ganz sicher noch Verbesserungspotential, aber im Vergleich zu anderen Ländern, gehen wir gut mit Risiken um. Auch der Bericht Katastrophen und Notlagen Schweiz 2015, den das Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS letztes Jahr veröffentlicht hat, zeigt dies. Die verschiedenen identifizierten und bewerteten Risiken müssen wir jetzt mit allen Beteiligten diskutieren und gemeinsam Risiko-Management betreiben. Wir brauchen zu jedem Risiko eine abgestimmte Sicht zur Verminderung und Vermeidung der Risiken und es muss auch klar sein, wer die Konsequenzen und Kosten trägt, wenn trotzdem etwas passiert. Was wir aber nicht tun dürfen: die Risiken einfach stehen lassen.Teilweise tun wir uns sehr, sehr schwer damit, unangenehme Fragen zu thematisieren. Ein Beispiel, das mal nichts mit Naturgefahren zu tun hat, ist die Überalterung. Dieses Thema gehen wir jetzt langsam an, weil wir merken, dass unser System so nicht mehr funktioniert und dringender Handlungsbedarf besteht. Es gibt auch politisch heikle Themen, die beispielsweise kurz vor einer Wahl nicht gerne diskutiert werden. In diesen Situationen möchte man eine „heisse Kartoffel“ nicht aufgreifen – es holt uns aber immer irgendwann ein! Wir kommen nicht darum herum, gemeinsam eine Lösung zu finden.
Sie sind seit 2010 Mitglied der PLANAT. Wie haben Sie die Arbeit der PLANAT in dieser Zeit erlebt? Welches waren die wichtigsten Geschäfte?
Ich bin sozusagen als Exot der PLANAT beigetreten – die private Versicherungswirtschaft war bis dahin nicht vertreten. Gerade die Vielfalt der vertretenen Fachrichtungen ist aber faszinierend – von Forschung über die Privatwirtschaft bis zur öffentlichen Hand sind alle repräsentiert. Dadurch sind wir in der Lage, eine 360-Grad-Betrachtung bei Naturgefahren und den damit zusammenhängenden Risiken einzunehmen. Es ist für mich sehr lehrreich zu sehen, wie die öffentliche Hand, die Forschung und die Wirtschaft damit umgehen.
Meiner Ansicht nach war das wichtigste Geschäft der letzten Jahre die Publikation des Materialienberichts Strategie für Naturgefahren – Sicherheitsniveau für Naturgefahren im Februar 2015. Wir haben ein Handbuch zur Umsetzung unserer vorgeschlagenen Strategie entwickelt – eine praxisorientierte Aufstellung dazu, was unsere Empfehlungen bedeuten und welches Sicherheitsniveau für Personen und Güter angestrebt werden soll. Die Arbeit erfolgte unter Einbezug sämtlicher Sichtweisen. Ich habe versucht, sowohl die Sicht eines Gemeindepräsidenten als auch die Sicht eines Versicherers einzubringen. Dieser Prozess war sehr spannend, und aus meiner Sicht haben wir unser Ziel erreicht.
Welche Erfolge konnte die PLANAT bereits verbuchen?
Die PLANAT besteht bereits seit 1997 – ich bin erst seit vergleichsweise kurzer Zeit dabei. Die Entwicklungen habe ich, auch aus beruflicher Perspektive, jedoch schon länger verfolgt. Ich bin davon überzeugt, dass die Entwicklung im Umgang mit Naturgefahren in der Schweiz zu einem grossen Teil der PLANAT zu verdanken ist. Ich denke, dass die PLANAT einen guten Weg gefunden hat in einer verträglichen Form, in homöopathischen Dosen sozusagen, der öffentlichen Hand, der Wirtschaft und Privatpersonen ihre Strategie zu vermitteln. Diese Kommunikation ist auch heute noch ein Thema: Wir stellen fest, dass wir zwar gute Inhalte vermitteln, es aber Zeit braucht, bis diese Informationen dort ankommen und verstanden werden, wo dann gehandelt werden muss. In der Schweiz werden Massnahmen zwar langsamer, dafür nachhaltig umgesetzt. Es ist jedoch zugegebenermassen nicht immer einfach, die nötige Geduld aufzubringen.
Ich bin der Ansicht, dass wir unsere grösste Wirkung auf der Stufe Gemeinde erzielen können. Unser politisches System bedingt – das finde ich auch richtig so – ,dass die Gemeinden die Umsetzung von Massnahmen in Gang bringen müssen. Volksnahe Kommunikation ist daher für mich unsere grösste Herausforderung.
Sie sind seit Anfang Jahr Präsident – das hier ist also sozusagen das 100 Tage im Amt Interview. Was qualifiziert Sie besonders für die Aufgabe als Präsident der PLANAT?
Also zuerst will ich sagen: Es gäbe sicher auch andere, die das Amt genauso gut ausführen könnten. Ich bringe vor allem zwei Kompetenzen ins Fachgremium: Erstens von meiner beruflichen Tätigkeit die Erfahrung im Umgang mit Risiken. Ich mache ja nichts anderes. Auch wenn es zwischendurch etwas nüchtern tönt: Mein Job ist es, Risiken in Zahlen zu fassen und dann eine Lösung für den Umgang mit diesen Risiken zu finden.
Und zweitens von meiner Zeit als Gemeindepräsident die Erfahrung in der Kommunikation auf Gemeindeebene. Dieses Thema steht in der PLANAT nämlich oft zur Diskussion.
Welche Akzepte möchten Sie als Präsident setzen? Gibt es so etwas wie ein Motto für Ihre Präsidentschaft?
Ich habe kein Motto, aber vielleicht sollte ich ja noch eins entwickeln! Mein grosses Anliegen ist die Kommunikation – dass die guten Erkenntnisse dort Gehör finden, wo sie umgesetzt werden sollen. Wie bereits erwähnt, ist dies besonders auf Stufe Gemeinde eine Herausforderung, gleichzeitig aber auch ein guter Gradmesser. Die Gemeinden sind nämlich diejenigen politischen Organisationen, wo am wenigsten Fachleute vorhanden sind, die mit Naturgefahren oder Risikomanagement Erfahrung haben. Sie haben die Energie und den Willen, sich für die Gemeinde einzusetzen – und diesen Willen sollten wir nutzen. Für uns gilt also: „Tue Gutes und sprich darüber – und zwar so, dass man es versteht!“ Und gleichzeitig: „Sprich darüber, damit Gutes getan werden kann.“ Es gibt nämlich kaum Situationen, wo die Verantwortlichen identifizierte Risiken ignorieren.
Ein Ziel der PLANAT ist der Paradigmenwechsel von der reinen Gefahrenabwehr zu einer „Risikokultur“. Was verstehen Sie unter dem Begriff?
Für mich bedeutet „Risikokultur“, dass wir uns bewusst sind, dass Gefahren nicht vollständig eliminiert werden können. Wir müssen lernen mit Gefahren zu leben, die Risiken zu kennen und darauf vorbereitet zu sein. D. h. auch, wir müssen uns vom Gedanken verabschieden, dass nichts passieren kann oder darf. Statt dessen orientieren wir uns am Gedanken, dass etwas passieren wird und kann – wir aber damit umgehen können. Es gibt eine gewisse Sicherheit und auch Ruhe, im Ereignisfall, wenn schon im Vorfeld das Vorgehen zur Ereignisbewältigung geplant wird.
Als ausserparlamentarische Kommission dient die PLANAT auch dem Bundesrat als Beratungsorgan – Sie haben also einen direkten Zugang zur politischen Entscheidungsebene. Welche Forderungen oder Wünsche haben Sie an die Politik?
Mein Wunsch, meine Erwartung, ist, dass wir offen mit Risiken umgehen. Es soll eine transparente Diskussion über den Umgang damit stattfinden. Dass man auch vom Parteibuch weg kommt und Risiken objektiv einschätzt und thematisiert. Die Offenheit und Distanz zum Thema muss unabhängig vom Grad der Betroffenheit gewährleistet sein. Ich weiss, dass das vermutlich ein frommer Wunsch ist – aber das erwarte ich von Entscheidungsträgern.
Umgekehrt: Welche Baustellen sind der Politik besonders wichtig, welche Forderungen und Wünsche wurden bereits an Sie gestellt?
Wir hatten vor kurzem ein Gespräch mit Frau Bundesrätin Leuthard. Sie hat es auf den Punkt gebracht: Sie erwartet von uns, dass wir uns weiterentwickeln, stets unter Einbezug aller Beteiligten, und eine Plattform bieten, wo sowohl Erkenntnisse als auch Ansichten ausgetauscht und Lösungen erarbeitet werden können. Die Integration neuer Stellen, beispielsweise die Vertretung von Infrastruktur-Betreibern in der PLANAT, ist eine zentrale Aufgabe in der neuen Legislatur der PLANAT.