16 Juli 2015

Das Verhalten der Bevölkerung in Katastrophen und Notlagen

Seit mehreren Jahren darf ich mich als Milizoffizier im Stab Bundesrat NAZ für das nationale Notfall- und Krisenmanagement engagieren. Unweigerlich taucht dabei die Frage auf: Wie würden sich Menschen in Katastrophen und Notlagen verhalten? Gerade in einem Land wie der Schweiz, das glücklicherweise wenig Erfahrung mit Extremereignissen hat. Wenig Erfahrung allerdings auch mit deren Bewältigung. Das Wissen um das Verhalten der Bevölkerung in Katastrophen ist zentral für ihren erfolgreichen Schutz.

Im Auftrag des Bundesamts für Bevölkerungsschutz hat die Stiftung Risiko-Dialog, bei der ich nun seit mehreren Jahren als Geschäftsführer fungiere, eine umfassende Literaturstudie zum Verhalten der Bevölkerung in Katastrophen und Notlagen durchgeführt.

Verzerrte Vorstellungen

In den Köpfen der Menschen existieren oftmals Vorstellungen von Massenpaniken, Plünderungen und Chaos. Sind das aber tatsächlich Zustände, mit denen wir in Katastrophen rechnen müssen? Nein, sagte unsere Studie. Massenpaniken, Gewalt und Plünderungen sind weitaus seltener, als gemeinhin angenommen. Menschen, die sich nicht in einer akut lebensbedrohlichen Situation befinden, zeigen sich in Katastrophensituationen überwiegend ruhig, rational und vor allem sehr hilfsbereit. So konnte im Rahmen einer Metastudie beispielsweise aufgezeigt werden, dass es in Untersuchungen zu Stromausfällen keinen einzigen dokumentierten Fall kollektiver Panikreaktionen gibt.

Während einer Katastrophe laufen unterschiedliche Verhaltensmuster in der Gesellschaft gleichzeitig ab. So können gewisse Gruppierungen ruhig und hilfsbereit reagieren, während sich andere Gruppen inadäquat (z.B. asozial oder gewalttätig) verhalten. Basierend auf der durchgeführten Literaturstudie kann generell davon ausgegangen werden, dass sich ein Grossteil der Bevölkerung im Ereignisfall adäquat verhält. Oder zu einem adäquatem Verhalten fähig ist, wenn dieses bspw. durch Wissensvermittlung zu Handlungsmöglichkeiten unterstützt wird (siehe Abbildung, Gruppe A). Ein weiter Teil der Bevölkerung würde sich unauffällig verhalten (Gruppe B). Dass sich kleinere Gruppen etablieren, die sich inadäquat verhalten und die über einen längeren Zeitraum hinweg die innere Sicherheit beeinträchtigen könnten, lässt sich nicht ausschliessen (Gruppe C). Allerdings handelt es sich dabei um potenzielle Entwicklungsprozesse, die Zeit benötigen, bis sie einen gesellschaftsgefährdenden Status erreichen.

Schematische Darstellung des Verlaufs unterschiedlicher Verhaltensweisen.

Ein Paradigmenwechsel

Während traditionelle Schutzansätze die Bevölkerung oft als passives Element sehen, welches informiert und geschützt werden muss, verweisen neue Forschungsergebnisse vermehrt auf die Relevanz des individuellen Bewältigungsverhaltens. Dieses umfasst vor allem das Wissen und die Fähigkeit, sich und anderen im Ereignisfall helfen zu können. Weiter gehört auch das Treffen von angemessenen Vorsorgemassnahmen, wie das Anlegen von Vorräten zum individuellen Bewältigungsverhalten. Neue Ansätze gehen davon aus, dass die Bevölkerung – mit entsprechender Unterstützung – die Kompetenz besitzt, sich vorwiegend selbst zu schützen und baut gezielt auf diesen Annahmen auf. Unsere Studie bestätigt die Notwendigkeit dieses Paradigmenwechsels klar.

Das Verhalten hängt von vielen verschiedenen Rahmenbedingungen ab und ist daher schwer vorhersag- und steuerbar. So unterscheiden sich beispielsweise die Informationsbedürfnisse, Ressourcen, Sprachkenntnisse etc. einer sozial eingebundenen Pensionärin von denjenigen eines jungen Immigranten mit wenig Landes- und Sprachkenntnissen. Ziel sollte deshalb die Förderung des individuellen Bewältigungsverhaltens sein, um mit Katastrophensituationen umgehen zu können. Eine grosse Herausforderung ist, wie das Wissen und Verhalten bei Jung und Alt gefördert werden kann. Die Homepage und die App von „Alertswiss“ stellen gute Beispiele für die Umsetzung dieses Ziels dar und sind richtungsweisend für künftige Projekte.

Die Erkenntnisse der Literaturstudie sind in der Praxis umzusetzen und inhaltlich weiterzuentwickeln. Weitere Projekte zur Förderung des individuellen Bewältigungsverhaltens und der Dialog mit der Bevölkerung vor und während eines Ereignisses werden für die Zukunft entscheidend sein.

Die gesamte Literaturstudie ist online einsehbar.

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