26 April 2016

30 Jahre Tschernobyl: Das Labor Spiez im Einsatz

Am 26. April 1986 ereignete sich im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl eine Nuklearkatastrophe. Die Folgen waren in weiten Teilen Europas zu spüren – so erreichte am 30. April 1986 die radioaktive Wolke von Tschernobyl auch die Schweiz. Die Ostschweiz und das Tessin waren am stärksten betroffen. Bereits am 29. April wurde das Labor Spiez im Rahmen des Aufgebots der sogenannten «Einsatzorganisation bei erhöhter Radioaktivität in der Schweiz» beauftragt, sich als Speziallaboratorium des Bundes für die Messung der Radioaktivität bereit zu halten.

Karte Sperrzone Tschernobyl
Karte der verschiedenen Zonen um Tschernobyl

Zu diesem Zeitpunkt waren in Spiez vier Fachleute im Fachbereich Physik für die Messung der Radioaktivität zuständig, Messmittel waren nur in geringer Zahl vorhanden – so z.B. lediglich zwei Gammadetektoren, was damals rund einem Fünftel der national vorhandenen Messsysteme entsprach.

Es wurde schnell deutlich, dass die vier Spezialisten rasch an ihre Grenzen kommen würden. Der damalige Chef des Labors, Dr. Bernhard Brunner, stellte deshalb ein Gesuch an die Armeeführung, das Armeelabor A86 unverzüglich für einen Aktivdienst aufzubieten; dabei handelt es sich um eine Milizformation, die seit der Gründung des AC-Schutzdienstes in der Armee dem Labor Spiez zur Unterstützung zur Verfügung steht. Am 5. Mai 1986 bewilligte der damalige Chef EMD, Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz, den Einsatz des Armeelabors A86. Einen Tag später waren die 40 Spezialisten des Armeelabors eingerückt und für den Aktivdienst vereidigt. In der Folge konnten die Milizsoldaten von den Fachleuten des Labor Spiez umgehend in die Arbeiten integriert werden. Zudem konnten zwei zusätzliche Gammadetektoren beschafft werden – keine Selbstverständlichkeit, denn in ganz Europa wurden damals die Detektoren knapp. Nun liessen sich im 24-Stunden-Betrieb täglich 250 Proben messen (Umweltproben, Gras-Futtermittel, Lebensmittel). Parallel dazu arbeitete die Gruppe Radiochemie des Labor Spiez intensiv daran, spezielle Radioisotope bestimmen zu können.

Reaktor Tschernobyl
Tschernobyl, Foto: Fran⁠çois Byrde ⁠

Nach 32 Tagen Einsatz beinahe rund um die Uhr konnte das Armeelabor A86 seine Arbeit beenden. In den Folgemonaten wurden von den professionellen Fachleuten in Spiez jedoch weiterhin hunderte von Proben gemessen. Gleichzeitig erfolgten im Tessin und am Bodensee Messungen vor Ort.

Die vom Labor Spiez und dem Armeelabor A86 vorgenommenen Messungen waren in manchen Belangen die wichtigste Grundlage für die Entscheidungen der Nationalen Alarmzentrale NAZ zum Schutz der Bevölkerung. So führten die festgestellten Spuren von radioaktivem Iod in Milchproben zu einer kurzfristigen Bewirtschaftung der Milch in der Schweiz: Die Milch aus dem Tessin wurde in anderen Landesteilen als Schweinefutter eingesetzt oder der Käseproduktion zugeführt. Weil das radioaktive Iod mit seiner kurzen Halbwertszeit bis zur Schlachtung der Schweine oder bis zum Verzehr des Käses zerfallen war, war der Konsum davon für Mensch und Tier unbedenklich.

Einige Jahre nach der Reaktorkatastrophe arbeiteten der Schweizerischen Katastrophenhilfekorps Fachgruppe Umwelt-ABC und mehrere Mitarbeiter des Labor Spiez als Teil einer Bundesexpertengruppe während eines Jahres in der Region Tschernobyl. Mit einem mobilen Laboratorium führten sie vor Ort zugunsten der lokalen Bevölkerung zahlreiche Proben- und Ganzkörpermessungen durch. Die Mission stand unter der Führung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA. Im Sinne einer vertrauensbildenden Massnahme wurden Messungen an Hunderten von Personen gemacht, vor allem auch an Kindern. Die Hilfsaktion brachte der Schweiz viel internationale Anerkennung.

 

Nach den Erfahrungen von Tschernobyl: Stärkung der Messkapazitäten in Spiez

Der Unfall in Tschernobyl hat gezeigt, dass die damaligen Messkapazitäten in der Schweiz bei einem grossen radiologischen Ereignis nicht ausreichend waren. In den Folgejahren wurde deshalb die Rolle des Labor Spiez als Speziallaboratorium des Bundes für die Radioaktivitätsmessung gestärkt: Die Anzahl der Mitarbeitenden im Fachbereich Physik wurde verdoppelt. Auch der bereits vor 1986 gefällte Entschluss, zusätzliche mobile Mittel in die Messorganisation aufzunehmen, wurde zügig umgesetzt.

Im Nachgang des KKW-Unfalls von Tschernobyl hat das Labor Spiez zudem zahlreiche Forschungsprojekte im Kanton Tessin und der Bodenseeregion veranlasst und begleitet, um das Verhalten der deponierten Radionukliden in unserer Umwelt zu untersuchen, Die Ergebnisse dieser Forschungen haben dazu beigetragen, zuverlässige Prognosen für die Entwicklung der radioaktiven Belastung zu erstellen und die erforderlichen Konsequenzen für die Fischerei und die Wildbestände zu veranlassen.

Heute können die mobilen Mittel der sogenannten A-EEVBS mit insgesamt 20 Mitarbeitern des Labor Spiez und des Kompetenzzentrums ABC-KAMIR der Armee abgerufen werden. Dazu gehören drei mobile Laboratorien für die Messung von Proben, für Schilddrüsen- und Ganzkörpermessungen, ein Modulfahrzeug, ein Ermittlungsfahrzeug, diverse Messwagen sowie eine Reihe von Messmitteln, um Verstrahlungssituationen vor Ort präzise messen zu können.

Sperrzone um Tschernobyl
Verstrahlte Landschaft um Tschernobyl, Foto: Fran⁠çois Byrde ⁠

Die Radioanalytik im Labor Spiez befindet sich damit heute auf international höchstem Niveau. Die Messmittel und Methoden entsprechen jenen der führenden Institute auf diesem Gebiet. Im Labor stehen derzeit 10 Gammadetektoren verschiedenster Typen zur Verfügung, dazu mehrere Massenspektrometer, Alpha- und Betaspektroskopie und weitere Technologien, um im radiologischen Ereignisfall die NAZ rasch mit aussagekräftigen Informationen versorgen zu können.

Die Unterstützung des Labor Spiez durch Milizformationen der Armee besteht weiterhin und wird auch im Rahmen der Weiterentwicklung der Armee aufrecht erhalten: Heute arbeitet das Labor Spiez mit dem ABC Abwehr Labor 1 zusammen, welches über drei identisch organisierte Kompanien verfügt, die für den Assistenzdienst aufgeboten werden können. Je 20 A-, B- und C- Spezialisten sowie 20 Probenehmer stehen pro Kompanie zur Verfügung. Die Milizsoldaten sind an allen Messmitteln ausgebildet, die im radiologischen Ereignis in den Einsatz kommen. Die Durchhaltefähigkeit der Probenahme- und Messorganisation des Bundes bei erhöhter Radioaktivität (MO) ist heute unter anderem dank dieser Milizformation sichergestellt.

Beitrag teilen:

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *