6 Januar 2017

Herausforderung Flüchtlingskrise – Erfahrungsaustausch zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz

Die stark gestiegene Zahl von Flüchtlingen in den vergangenen Jahren stellt eine beträchtliche Herausforderung für die europäischen Staaten dar. Die Registrierung, Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge in Europa erfordern eine enge Zusammenarbeit von Behörden, Hilfsorganisationen und Zivilgesellschaft. In der Hochphase der Flüchtlingskrise im Sommer/Herbst 2015 mussten teilweise innerhalb von Tagen oder gar Stunden pragmatische Lösungen gefunden werden. Dabei offenbarten sich die Stärken und Schwächen der bestehenden Strukturen und Prozesse des Krisenmanagements. Für die Organisationen des Bevölkerungsschutzes stellen die Erfahrungen aus der Flüchtlingskrise daher eine wertvolle Lernchance dar, um auf zukünftige Katastrophen, Krisen und Notlagen bestmöglich vorbereitet zu sein. Notwendig ist hierfür eine umfassende, zeitnahe und kritische Auswertung der Ereignisse unter Einbeziehung der wichtigsten Akteure. Aus Sicht der Schweiz ist dabei die Zusammenarbeit mit ihren Nachbarländern besonders wichtig, schliesslich handelt es sich beim Thema Flüchtlingswesen um eine grenzübergreifende Herausforderung.

Grenzüberschreitender Erfahrungsaustausch

Um den Erfahrungsaustausch bezüglich unterschiedlicher Fragestellungen im Themenbereich Flüchtlingswesen zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz voranzubringen, veranstaltete das Bundesamt für Bevölkerungsschutz gemeinsam mit dem Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich vom 27.-28. Oktober diesen Jahres einen zweitägigen Experten-Workshop in Zürich. Die Veranstalter konnten dabei auf die langjährige Zusammenarbeit der Bevölkerungsschutzbehörden der Nachbarländer aufbauen, die bereits in der Vergangenheit regelmässig sogenannte D-A-CH-Workshops zu unterschiedlichen Fragestellungen im Themenbereich Bevölkerungsschutz (z.B. Risikoanalyse und Schutz kritischer Infrastrukturen) umfasst hatte.

Vertreter von Behörden, Hilfsorganisation und Wissenschaft an einem Tisch

Aus Deutschland nahmen Vertreter des Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), des Bundesamt für Güterverkehr (BAG), der Katastrophenforschungsstelle der
FU Berlin
sowie der Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg am Workshop Teil. Österreich war durch das Bundesministerium für Inneres (BM.I), das Bundesland Tirol sowie durch das Österreichische Rote Kreuz repräsentiert. Die Schweizer Perspektive brachten Vertreter des Staatssekretariat für Migration (SEM), des Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS), der Eidgenössische Zollverwaltung (EZV), der Kantone St. Gallen, Waadt und Zürich sowie des Schweizerischen Roten Kreuzes in die Diskussion ein. Insgesamt nahmen an der Veranstaltung 22 Vertreterinnen und Vertreter nationaler und subnationaler Behörden sowie zivilgesellschaftliche Akteure und Wissenschaftler teil, die in den Themenbereichen Flüchtlingswesen und/oder Bevölkerungsschutz arbeiten. Dabei standen zwei Hauptziele im Vordergrund: Zum einen sollten praktische Erfahrungen der letzten Monate ausgetauscht und mögliche Handlungsfelder für die Bewältigung künftiger Herausforderungen diskutiert werden. Zum anderen sollte der Workshop dazu dienen, Auswirkungen für die politisch-strategische Ebene zu identifizieren.

In einem Raum sitzen die Teilnehmenden des Workshops am Tisch. Die Wände sind aus dunklem Holz. Um den Tisch sitzen 8 Personen, vorne steht eine Frau vor einem Bildschirm. Sie präsentiert eine Grafik auf dem Bildschirm. Die weiteren Personen schauen sie an und hören ihr zu.
Referenten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz lieferten Einblicke in die Praxis in den jeweiligen Ländern.

Unterschiedliche Strukturen, ähnliche Herausforderungen

Zu Beginn des Workshops führten zunächst Vertreter des Deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), des österreichischen Bundesministerium für Inneres (BM.I) sowie des Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) in die jeweiligen nationalen Zuständigkeiten ein und stellten zentrale Entwicklungen der letzten Monate dar. Dabei wurde deutlich, dass sich die Strukturen des Krisenmanagements zwischen den drei Nachbarländern in zentralen Aspekten deutlich unterscheiden. Auch das Ausmass der Flüchtlingskrise war und ist zum Teil sehr verschieden. So hat Österreich zwar einen enormen Anstieg der Asylgesuchzahlen verzeichnet, war jedoch in erster Linie als Transitland betroffen, weshalb die meisten Flüchtlinge vergleichsweise kurz im Land blieben. In Deutschland mussten hingegen in deutlich grösserem Umfang Strukturen für die längerfristige Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen geschaffen werden, während in der Schweiz die Anzahl der Asylgesuche zwar sehr hoch, insgesamt aber deutlich unter denen der Nachbarländer blieb. In der Diskussion zeigte sich aber auch, dass zahlreiche Herausforderungen, mit denen die handelnden Akteure konfrontiert waren, durchaus ähnlich sind.

Flüchtlingskrise offenbarte Stärken und Schwächen

Wie mehrere Teilnehmer hervorhoben, stellte die Sicherstellung klarer und verlässlicher Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten eine der anspruchsvollsten Aufgaben im Zuge der Flüchtlingskrise dar. Vor allem in der Frühphase der Krise wurde die Bewältigung der stark zunehmenden Migrantenzahlen vielerorts primär als grenzpolizeiliches Problem gesehen. Als später Fragen der Unterbringung und Betreuung immer drängender wurden, wurde die Flüchtlingskrise zunehmend als Thema der Sozialpolitik betrachtet. Hingegen wurde nur in einzelnen Fällen auf die Strukturen des Bevölkerungsschutzes zurückgegriffen, obwohl hier etablierte und durch Übungen und Echteinsätze gefestigte Abläufe zur Bewältigung derartiger Krisensituationen vorhanden sind. Stattdessen wurden häufig neue operative Instrumente zur Bewältigung der Krisensituation eingeführt, wodurch es teilweise zu Verzögerungen und Koordinierungsproblemen zwischen den zahlreichen involvierten Akteuren kam.

Langfristige Partnerschaften und Improvisationskunst gefragt

Wie die Teilnehmer übereinstimmend berichteten, konnten trotz der schwierigen Handlungsbedingungen in vielen Fällen pragmatische und effektive Lösungen gefunden werden, um den Geflüchteten ein Mindestmass an Betreuung und Sicherheit zu gewährleisten. Entscheidend waren hierfür in den meisten Fällen enge, häufig informelle Abstimmungen zwischen den Vertretern der involvierten Behörden auf Bundes und Landesebene bzw. der Kantone sowie den Zuständigen der Hilfsorganisationen. In der Hochphase der Flüchtlingskrise konnten so zum Teil innerhalb kürzester Zeit unbürokratisch und mit einem gewissen Mass an Improvisationskunst praktikable Lösungen für eine schnelle Hilfe für die Geflüchteten gefunden werden, die nach Monaten oder gar Jahren der Flucht in vielen Fällen in einem kritischen physischen und psychischen Gesundheitszustand waren. Wie Vertreter des Österreichischen und Schweizerischen Roten Kreuzes sowie der Katastrophenforschungsstelle der FU Berlin deutlich machten, wäre es für zukünftige Katastrophen, Krisen und Notlagen jedoch dringend notwendig, geregelte Prozesse und Strukturen zu schaffen, beispielsweise für die Finanzierung von Versorgungs- und Betreuungstätigkeiten durch die Hilfsorganisationen.

 In einem Raum sitzen ungefähr 20 Personen um einen langen Tisch. Vorne steht ein Mann, der an einer Tafel etwas präsentiert. Die Zuhörenden machen teilweise Notizen und hören scheinbar gespannt zu.
Während des Workshops wurde intensiv über die Weiterentwicklung der bestehenden Strukturen diskutiert

Welche langfristige Lehren lassen sich ziehen?

Zum Abschluss der Veranstaltung diskutierten die Teilnehmer welche mittel- und langfristigen Lehren sich aus den Erfahrungen während der Flüchtlingskrise ziehen lassen würden. Wie unterschiedliche Teilnehmer deutlich machten, handelt es sich bei der Flüchtlingsthematik keineswegs um ein abgeschlossenes Ereignis. Vielmehr ist in den kommenden Jahren durchaus mit einem erneuten starken Anstieg der Migrationsbewegungen nach Europa zu rechnen. Gleichzeitig ist bereits jetzt zu erkennen, dass die Strukturen des Krisenmanagements nach und nach wieder zurückgefahren werden. Wichtig ist deshalb, jetzt rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen, um gegebenenfalls rasch auf Veränderungen im Handlungsumfeld reagieren zu können. Die Organisationen des Bevölkerungsschutzes sollten hierbei eine aktive Rolle spielen. Damit zusammen hängt ein weiterer Punkt, der in der Diskussion wiederholt genannt wurde: die Fähigkeit zur Früherkennung herausfordernder Entwicklungen. Aufgrund mangelnder Koordination und Kommunikation fehlte den handelnden Akteuren während der Hochphase der Flüchtlingskrise zeitweise ein klares Lagebild, wodurch sie stellenweise nur noch sehr kurzfristig auf Ereignisse reagieren konnten, anstatt proaktiv Massnahmen einleiten zu können. Um dies künftig zu verbessern, wäre es insbesondere wichtig, die Zusammenarbeit der beteiligten Akteure sowohl auf den unterschiedlichen administrativen Ebenen als auch zwischen den Nachbarländern weiter zu institutionalisieren und zu stärken, u.a. durch regelmässige grenzüberschreitende Übungen.

Das gesellschaftliche Potential in Krisen nutzen

Schließlich diskutierten die Teilnehmer des Workshops, wie sich das gesellschaftliche Potential zur Bewältigung von Katastrophen, Krisen und Notlagen noch besser nutzen liesse. Wie die Flüchtlingskrise gezeigt hat, besteht in weiten Teilen der Bevölkerung eine grosse Bereitschaft Mitmenschen in Not zu helfen. Ebenso gibt es auf Seiten der Privatwirtschaft einen ausgeprägten Willen, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Eine der zentralen Herausforderung des Bevölkerungsschutzes in den kommenden Jahren wird nach Ansicht der Teilnehmer darin bestehen, dieses Potential auszuschöpfen und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure in die bestehenden Strukturen möglichst effizient und gewinnbringend einzubinden.

21 Personen stehen in der Reihe aufgestellt und lächeln für das Foto. Sie sind geschäftstauglich gekleidet, grösstenteils in dunkelblauen Anzügen. Sie stehen auf einer Wiese vor einem Baum.
Die Teilnehmenden des internationalen Experten-Workshops in Zürich

Die Rolle des Bevölkerungsschutzes bei der Betreuung und Versorgung von Flüchtlingen

In der öffentlichen Diskussion besteht häufig Unklarheit, wie das Thema Flüchtlinge im Zusammenhang mit den Aufgaben des Bevölkerungsschutzes steht, der sich sonst vornehmlich mit dem Schutz vor Naturkatastrophen, Industrieunfällen u.ä. beschäftigt. Um Missverständnissen vorzubeugen ist es deshalb wichtig, deutlich zu machen, dass es sich bei Flüchtlingen keineswegs um eine Gefahr oder Bedrohung handelt, vor der die einheimische Bevölkerung geschützt werden müsste. Vielmehr handelt es sich bei Flüchtlingen um Schutzsuchende. Ihre geordnete, effektive und vor allem menschenwürdige Versorgung und Betreuung stellt eine humanitäre Verpflichtung dar, die auch in internationalen Abkommen und Konventionen festgelegt ist.

Die Bewältigung dieser gesamtstaatlichen Aufgabe geschieht unter hohem Zeitdruck und erfordert zugleich das Zusammenwirken einer Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, u.a. aus den Bereichen Gesundheitsversorgung, Sozial- und Jugendwesen, öffentliche Sicherheit und Asylwesen. Die Organisationen des Bevölkerungsschutzes können hier einen wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung leisten. So besitzt der Bevölkerungsschutz wertvolle Ressourcen, u.a. zum Transport und zur Registrierung von grossen Personenzahlen, zum Aufbau von Notunterkünften, zur Bereitstellung von Nahrung und Kleidung, sowie zur medizinischen Versorgung und psychosozialen Betreuung. Da die damit verbundenen Strukturen und Prozesse im Rahmen von Übungen regelmässig überprüft und angepasst werden, können sie im Ereignisfall innerhalb kürzester Zeit aktiviert werden. Sie bilden somit ein wichtiges Element im gesamtstaatlichen Krisenmanagement.

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